Hobbys, Quali und Friede
Erfolgsgeschichte aus dem Bereich Ambulante Erziehungshilfen
„Ich kenne Nico* seit seinem elften Lebensjahr. Jetzt ist er 16 und man kann sagen: Es läuft!“, so Felix Fertl, Sozialpädagoge bei den ambulanten Erziehungshilfen von anderwerk. Ursprünglich war er in der Familie, um Nicos Bruder zu unterstützen. „Und weil ich nun schon mal da war, haben wir bei Nico eine Ausnahme gemacht. Denn eigentlich war er viel zu jung.“ So kam Nico mit 12 Jahren zu anderwerk beziehungsweise Felix Fertl zu ihm: „Ich habe mir von ihm seine Skaterbahn, seine Mountainbikestrecke, sein Viertel und sein Umfeld zeigen lassen. So habe er langsam eine Beziehung zu dem sehr verschlossenen Jungen aufgebaut.
Erziehungshilfe durch Vaterersatz
Felix Fertl füllte als männliche, erwachsene Bezugsperson Vieles der großen Leere, die durch das Fehlen des Vaters entstanden war, als dieser sich der Familie entzog. Der Vater, Schichtarbeiter, litt unter einem Alkoholproblem und hatte so bereits während der Ehe die Mutter vor den zwei Kindern gedemütigt. Schon während der Ehe hatte er seine Vaterrolle nicht wahrgenommen und wenig Zeit mit den Kindern verbracht. Nach der Scheidung war er dann fast völlig abwesend. Er zahlte keinen Unterhalt und enttäuschte die Kinder ein ums andere Mal, indem er Verabredungen und Versprechen nicht einhielt.
Die Mutter arbeitet Vollzeit und konnte in München nie auf ein Netzwerk zurückgreifen, da ihre Eltern in Ostdeutschland leben. Sie bot den beiden Jungs zwar eine klare Struktur, doch die konnten sich dem nicht fügen oder vielem nicht gerecht werden. Sie forderte Ordnung und Eigenverantwortung und die Kinder reagierten mit Trotz und sogar Beschimpfungen. „In dieser Konstellation fehlte es zu dem Zeitpunkt auf beiden Seiten an Einfühlungsvermögen“, so Fertl.
Erster Schritt: Änderung des WLan Schlüssels
Nicos Mutter und auch seine Schule hatten Kontakt zu anderwerk aufgenommen: „Er war damals im Unterricht auffällig unauffällig“, berichtet Felix Fertl. ‚Apathisch‘ habe die Lehrerin sein Verhalten im Unterricht geschildert. Sofern er die Schule besuchte. Sehr oft schob er Krankheitsbeschwerden vor, um die Schule zu verweigern. Parallel verhielt er sich seiner Mutter gegenüber aggressiv. „Unser übermütiger Harry Potter“, so Felix Fertl, „fuhr mit dem Roller durch die Gänge und brach so lange die strengen Regeln der privaten Mittelschule, bis es zum Disziplinarausschuss kam. Fast hätte er die Schule ohne Abschluss verlassen müssen.“
Im ersten Schritt war Nico eine Therapie vorgeschlagen worden, aber weil er sich dort nicht öffnete, stand nun ein stationärer Klinikaufenthalt im Raum. Aus erzieherischen Gründen übernahm Felix Fertl die Rolle des Vertrauten und erweckte Nicos Interesse an seinen Hobbys neu: „Mein Ziel war, ihn von der Konsole wegzuholen. Die bietet zwar schnelle Erfolgserlebnisse, macht aber nicht glücklich. Ich wollte ihn aus seiner Apathie ‚befreien’. Zuerst mussten wir für zwei Wochen den Wlan-Schlüssel ändern, die Jungs aus ihrem Trott holen und neue, feste Onlinezeiten einführen.“
Erziehen heißt auch verstehen
Da er sich in der Therapie verweigert hatte, steckte Nico nach wie vor in einer depressiven Verstimmung fest. Er trauerte um den Verlust seines Vaters aus seinem Leben und war für seine Umwelt nicht mehr akzeptabel. Felix Fertl erzählt: „Je älter er wurde, desto lauter verhielt er sich dann auch in gewissen Momenten, sei es in der Schule, wenn er sich gegen seinen Lehrer äußerte oder im Streit mit seiner Mutter oder seinem Bruder. Einmal riefen die Nachbarn sogar die Polizei, weil sie Schlimmeres befürchteten.“
In dieser Phase zeigte ihm Felix Fertl, dass er sich auf Erwachsene verlassen kann: Er nahm sich Zeit für ihn, räumte mit ihm sein Zimmer um und brachte ihn vom Warten ins Tun und zum Handeln: Er reparierte mit ihm sein Mountainbike, entdeckte die Rampen wieder und baute mit ihm ein paar Monate später sein Skateboard zum Snowboard um. Danach war Nico wieder aktiv mit seinen Freunden unterwegs.
Sein erster Erfolg sei gewesen, dass Nico wenigstens an den Therapiestunden teilnahm, berichtet Fertl. Dann habe er begonnen zwischen Mutter und Sohn zu übersetzen: Wenn die Mutter mit ‚Du musst‘ anfing, hörte Nico schon nicht mehr zu.“ Felix Fertl moderierte und sagte: Was sie meint, ist, dass es besser für dich ist, wenn du einen Schulabschluss machst.“ Umgekehrt erklärte Fertl der Mutter, wann Nico sich unter Druck fühlte, wenn sie ungeduldig war. „Die Mutter ist zwar sehr überzeugt von ihrem Handeln, gleichzeitig aber auch sehr offen für Input, sagt Fertl. Als Belohnung für seine abgeschlossene Therapie unternahm Fertl schließlich mit Nico einen Ausflug zu Jochen Schweizer in den VR-Escape Room.
Quali an der anderschule
Während dieser Zeit kam Nico mehr ins ‚Quatschen‘ und öffnete sich. „Nach und nach erfuhr ich, was ihn in der Schule nervte und wann er nicht mit seiner Mutter reden konnte“, so Fertl. „Mittlerweile meldet sich Nico binnen einer Stunde, wenn ihn etwas belastet und bittet um einen Beratungstermin. Auch, wenn er verschlafen hat, ruft er sofort an, entschuldigt sich und macht sich schnellstens auf den Weg zu uns!
Denn er hat auch gelernt, dass jedes Handeln eine Konsequenz nach sich zieht, die auch sehr positiv sein kann. „Er weiß, dass er weniger Stress hat, wenn er lernt. Trotzdem hat er dann den Quali knapp verpasst. „Das war auch für mich ein Rückschlag“, gesteht Felix Fertl. „Aber es geht nicht alles auf einmal. Nico hat eine hohe Frustrationstoleranz entwickelt. Und nun versucht er, bei uns auf der anderschule gemeinsam mit nur fünf Mitschülern den Quali zu schaffen. In unserer Berufsorientierung absolviert er zahlreiche Praktika: Extern war er im Heizungsbau, und sogar in einer Lamborghini-Werkstatt hat er zwei Wochen Erfahrungen gesammelt. Bei uns, in der Schreinerei und in der Raumausstattung.
Jetzt will Nico Elektroniker werden.
Felix Fertl erklärt den Verlauf von Nicos Entwicklung: „Er kam von ‚keiner versteht mich‘ und ‚die schicken mich in die Klinik‘.“ Jetzt unternimmt er wieder viel mit seinen Freunden und auch bei anderwerk hat er bereits neue soziale Kontakte geknüpft. Er hat seine Hobbys wiederentdeckt und interessiert sich für seine Zukunft. „Früher hat er abgewartet, jetzt höre ich, wie er selbst bei fünf Werkstätten anruft, um ein Praktikum zu bekommen“, so Fertl. AeH, anderschule, die Berufsorientierung und die Werkstätten haben bei dieser positiven Entwicklung perfekt ineinander gegriffen
Mit seinem Bruder, der mittlerweile bei den Gebirgsjägern ist, zocke er dann bei dessen Besuch die Nacht durch, aber das sei dann eben etwas Besonderes. Und mit seiner Mutter hat Nico klärende Gespräche geführt. Das Ergebnis: Nico war früher wütend auf die Mutter, weil er die Mutter dafür bestrafen wollte, dass sie den Vater verlassen hat. Die Trennung hat quasi die Illusion zerstört, dass alles besser werden könnte. Die Mutter hat damals durch ihr Handeln transparent gemacht, was die Kinder nicht sehen wollten. Am Ende at Felix Fertl als neutrale Bezugsperson dafür gesorgt, dass sich das Gefüge mit Kindern und Mutter verändern konnte. Nun ist Friede eingekehrt.
*Name von der Redaktion geändert.