Erfolgsgeschichte: Gino galt als unbeschulbar – jetzt hat er den Mittelschulabschluss

Erfolgsgeschichte aus dem Bereich Berufsorientierung für junge Männer (BOJs)

Eloquent, gute Manieren, aber nicht mehr beschulbar – so war die Ausgangssituation als Felix Fertl Gino kennenlernte. Hier bei BOJs, also der Berufsorientierung für junge Männer, sollte Gino eine berufliche Perspektive entwickeln. Dank anderwerk hatte er am Ende seinen Mittelschulabschluss und jetzt stehen ihm Türen offen, an die er früher nicht einmal geklopft hätte.

Die Teilnehmer bei BOJs nehmen an drei Phasen teil, um sich langfristig in eine Ausbildung oder Arbeit zu begeben. Gemeinsam mit den Sozialpädagogen klären die jungen Männer zunächst ihre Interessen, Fähigkeiten, Erwartungen und Hoffnungen. „Im ersten Moment habe ich mich gefragt“, sagt Felix Fertl, Sozialpädagoge bei BOJS anderwerk, „wo Ginos Probleme liegen. Gino wirkt aufgeweckt“, fährt er fort, „und kann problemlos von der Jugendsprache in die Hochsprache wechseln, was tatsächlich wenigen unserer Jugendlichen hier gelingt“ und so fügt er hinzu, „er ist sehr, sehr gut erzogen.“ Seine beiden Geschwister besuchen eine Realschule in München, beide Eltern sind berufstätig, zu beiden hat er ein gutes Verhältnis. Auch der Freundeskreis ist stabil, auch wenn sich hier erste Probleme abzeichnen.

Du schaffst den Mittelschulabschluss!

Gino ist 17 Jahre alt, in Deutschland geboren und hat keinen Schulabschluss. Bereits nach der 7. Klasse wechselte er die Schule, von der Mittel- auf eine Förderschule. Zudem ist er polizeibekannt, denn bei Konflikten neigt er zu körperlicher Gewalt. Sein Entlassungszeugnis aus der Schule gibt ihm nur die Möglichkeit sich später auf Hilfsjobs zu bewerben, wie Tellerwäscher in der Gastronomie. Der nächste Schritt wäre eine Reha-Prüfung gewesen, doch in der Zwischenzeit sollte er zu anderwerk gehen, um, wie Felix Fertl sagt „nicht aus dem System zu fallen“.

In den kleinen Gruppen fiel Gino dann sofort positiv auf. In Absprache mit Manfred Trojer von anderschule boten sie Gino an, den Mittelschulabschluss zu probieren. „Seine Unterlagen bescheinigten ihm null Chancen und ja, sein Leistungsvermögen ist eingeschränkt und er hat im Begreifen eine deutliche Lernbehinderung, aber mit unserer Methode hat er es geschafft. Und das ist sein Verdienst“, lobt Fertl heute.

In den Gruppen von vier bis fünf Jungs sprechen die Sozialpädagogen über Themen wie Körperlichkeit, kulturell geprägte Männlichkeit, Gewalt und Angst, Vorteile und Benachteiligungen. Schnell wird klar, dass Gino leicht manipulierbar ist, den Coolen folgen will und sich sehr schlecht auf ein Thema konzentrieren kann. Gleichzeitig aber hat er eine sehr ausgeprägte Sozialkompetenz und kann in dieser Kleingruppe zwischen Konfliktparteien vermitteln, statt sofort zu eskalieren.

Kochen trainiert Feinmotorik, Teamspirit und Frustrationstoleranz

Bei BOJs geht es auch darum, lebenspraktische Schlüsselkompetenzen aufzubauen und zu erweitern. Eine Einheit besteht also auch aus Kochen. „Hier lernen die Jungs nicht nur für sich zu sorgen. Es geht dabei aber um viel mehr“, erklärt Felix Fertl, der selbst ein begeisterter Hobbykoch ist. Hier werden Teamfähigkeit, Frustrationstoleranz und Feinmotorik trainiert. „Uns geht es zum einen darum, Geschlechterrollen aufzubrechen. Zum anderen geht es aber auch um Selbstwirksamkeit, planvolles Handeln und eben um Konzentration.“

Mengen abschätzen und abwiegen, Gemüse fein schneiden und dabei Vorgaben umsetzen, wie Karotten in Streifen statt in Würfel zu schneiden. Bei Eiscreme die Temperatur überwachen oder beim Tortilla-Füllen schnell sein, Handgriffe üben, sich abstimmen. „Gino fehlte es nie an Motivation, dafür brauchte er aber eine engmaschige Erklärung, Rückmeldung und Bestärkung, da er sonst aufgeben wollte“ berichtet Fertl und ergänzt: „Versuch und Irrtum war für ihn keine Lösung. Unser erstes Erfolgserlebnis war, dass er die Rezepte mit nach Hause nahm und zum Üben für seine Familie kochte.“

Auf die Orientierungsphase folgt das Ausprobieren

In der zweiten Phase bei BOJs orientieren sich die Jugendlichen und lernen Berufsfelder kennen – in Theorie und durch Praktika. Individuell baut anderwerk mit ihnen die Stärken aus. Gino hatte zunächst Schwierigkeiten, sich realistisch einzuschätzen. Er mochte Garten- und Landschaftsbauer, litt aber massiv unter Heuschnupfen. Dann versuchte er sich im Friseurhandwerk und arbeitete später im Bereich Recycling und Abfallwirtschaft.

Zur zweiten Phase gehört auch Kommunikations- und Konflikttraining. Für Gino war es ein sehr großer Schritt, sich mit Wortes statt mit Lautstärke durchzusetzen. Wobei es ihm lange schwergefallen sei, bei der Sache zu bleiben. „Ein gutes Thema, um die Jungs aus der Reserve zu locken ist die Frage ‚Können Frauen Chef sein‘, sagt Felix Fertl. „Viele tendieren dazu, ‚Nein‘ zu schreien, merken dann aber, dass die Mama daheim den Laden im Griff hat.“ Und auch bei anderen stereotypen Aussagen greift Fertl zu der Frage: „Gilt das auch für deine Mutter?“
Um die toxische Männlichkeit zu entlarven, vergleicht er Männerklischees gerne mit den Aussagen zu ‚Was ist ein guter Vater?‘. Im Laufe der Zeit hat sich Gino vom Nachplapperer, der sich in der Gruppe als Sexist profilierte, zu einem reflektierten Gegenüber entwickelt. Wobei Felix Fertl einschränkt: „Die Jungs mit geringem Selbstvertrauen neigen dazu, Mädchen zu objektivieren und als Eigentum zu betrachten, weil sie Probleme mit Gefühlen zu sich selbst und damit zu anderen haben. Gino ist auf einem sehr guten Weg, selbstbewusster mit sich und seinen Gefühlen zu umzugehen.“

Jetzt folgt eine theoriereduzierte Ausbilung

Nach der Orientierungsphase und dem Ausprobieren geht es in der dritten Phase um die Umsetzung. Für Gino hieß das: Einzelnachhilfe und üben, üben, üben. „Ihm fehlte das mathematische Grundverständnis“, erzählt Fertl und ergänzt: „Und das ist ja wichtig fürs Leben.“ Schließlich müssen die Jugendlichen verstehen, wie viel Prozent ihres Einkommens sie ausgeben. Was bedeutet Ratenzahlung? Ist ein Angebot wirklich ein Angebot? Was ist eine Mogelpackung? Auch beim Volumenrechnen blieb Felix Fertl weiter in der Lebensrealität der Jungs und nahm als Beispiel eine Red-Bull-Dose. Sneakers, Jacken und Gucci-Bags im Wert von 400 bis 600 Euro stellte er einem Taschengeld von 50 Euro gegenüber. Und die Konsequenz daraus malte er gleich an die Wand, wenn es dann um Schulden, Schwarzfahren und Strafen ging.

Die Jugendlichen entwickeln in dieser dritten Phase konkretere Perspektiven. Bei Gino führte die Erkenntnis, dass er seinen Freundeskreis wechseln muss, wenn er seinen Schulabschluss schaffen will, zum Happy End. Die eine Hälfte seiner Freunde war nach der Mittelschule in die Ausbildung gegangen und hatte kaum noch Zeit für ihn. Die anderen lebten eher destruktiv in den Tag hinein. Gino war im Zwiespalt, wo er dazugehören wollte. Setzte aber nun Prioritäten, blieb zu Hause, statt feiern zu gehen und es gelang ihm, autonom zu lernen.

Und er hat es geschafft. „Zwar mit einer 5 in Mathe, aber er hat es geschafft“, sagt Fertl. „Mehr war mit seiner Lernbehinderung nicht drin. Wenn man bedenkt, dass er als nicht beschulbar eingestuft worden war, dann ist das ein toller Erfolg“, so Fertl weiter. Jetzt stünde ihm eine theroriereduzierte Ausbildung als Verkäufer statt Einzelhandelskaufmann, Hilfskoch oder ähnliches offen.

„Seine Zeit bei uns ist vorbei“, so Felix Fertl. „Aber wir werden informell in Kontakt bleiben.“ Gino kocht mittlerweile gerne und möchte mit seinem Vater, einem ehemaligen Pizzabäcker, ein Restaurant eröffnen. „Mal sehen, was da noch kommt … “

*Name von der Redaktion geändert