Deutsch ist so präzise

Erfolgsgeschichte Deutschkurse

„Die Deutschen wandern“, sinniert Kamal. „Das heißt, sie gehen spontan und ohne großes Ziel los. Und machen einen Unterschied zum Spazieren. In anderen Ländern braucht man einen Grund, um irgendwohin zu gehen. Hier scheint mir der Weg das Ziel zu sein“, sagt Kamal lachend zum Einstieg in unser Gespräch. Ein interessantes Phänomen bei Menschen, die Deutsch als Zweit- oder spätere Sprache gelernt haben, ist die deutliche und sehr präzise Ausdrucksweise. Das bestätigen auch die Deutschlehrer bei anderwerk.

Kamal ist ein herausragendes Beispiel unter den Schüler*innen der anderwerk Deutschkurse. Er ist jetzt 29 Jahre alt und kam vor eineinhalb Jahren mit einem Visum nach Deutschland. Heute leitet er einen Kiosk, hat den deutschen Führerschein gemacht und möchte eine Ausbildung absolvieren.

Seine Mutter hatte in Afghanistan als Gynäkologin gearbeitet, bevor sie als Beraterin für die Entwicklungshilfeorganisation GTZ (Deutsche Gesellschaft für Technische Zusammenarbeit) tätig wurde. Nachdem 2016 alle ausländischen Kräfte Afghanistan verlassen mussten, geriet Kamals Familie in Bedrängnis. Sie flohen aus der Hauptstadt Kabul aufs Land zu Kamals Onkel, wurden dort jedoch von mehreren Männern bedroht. „Meine Mutter war aufgrund ihrer Arbeit als Frauenärztin sehr bekannt, deshalb hatten wir unter der neuen Herrschaft der Taliban große Angst um sie und um uns“, erzählt Kamal.

Nach fünf Jahren gelang Mutter, Vater, Kamal und seine Frau die Flucht mit dem Auto nach Islamabad, Pakistan. Die zwei jüngeren Schwestern kamen mit den drei Brüdern nach. „Es war alles wahnsinnig chaotisch“, erinnert er sich. „Unsere Muttersprache ist Farsi, in der Schule haben wir Englisch gelernt, auf der Flucht durch Südafghanistan mussten wir nun mit der Sprache Paschtu durchkommen.“ Zwar besaßen alle Familienmitglieder Pässe und Visa, dennoch wollte man nicht zulassen, dass sie das Land verlassen. Er zögert und sagt: „Wir haben bis zum heutigen Tag in der Familie nicht über diese Zeit gesprochen. Es war alles zu viel. Langsam wird es besser.“

Die ganze Familie hat Deutsch gelernt

In Afghanistan war das Leben der Familie nicht luxuriös, aber die ganze Familie lebte zusammen in einem Haus. „Wir hatten ein gutes Leben“, erinnert er sich. Beide Elternteile arbeiteten als Ärzte. „Es waren 20 sehr freie Jahre als Jugendlicher“, sagt Kamal. Man hatte Zugang zum Internet, IT-Kursen und konnten studieren. Ein Bruder wurde Arzt und arbeitet jetzt in Deutschland in einem Mini-Job bis seine Zeugnisse hier anerkannt werden. Der andere Bruder ist Ingenieur für Umwelttechnik, auch er ist noch in einem Mini-Job geparkt. Die zwei jüngeren Schwestern gingen in Afghanistan zur Schule und haben in Deutschland jeweils eine Ausbildung zur Physiotherapeutin und Apothekerin begonnen. Er selbst hat einen Bachelor in Finanz- und Bankwesen und hat als CFO gearbeitet. „Ich dachte, ich hätte eine Zukunft in Afghanistan“, seufzt er.

Die Zeit in Islamabad war für die Familie sehr schwierig, weil Afghanen extrem unbeliebt waren und es darum auch dort lebensgefährlich war, das Haus zu verlassen. „Wir lebten von unseren Ersparnissen, meine Eltern verkauften alles, was sie besaßen, nur wir Brüder und eine Schwester lernten die Sprache Urdu und jobbten in Restaurants als Kellner.“ Kamals Frau, ebenfalls Ärztin, bemühte sich um die Anerkennung ihrer Papiere in Pakistan, arbeitete unbezahlt in einem Krankenhaus, musste dann aber aufgeben.

„Als wir endlich ausreisen durften, waren wir sehr froh“, sagt Kamal und seine Stimme klingt erleichtert. Zunächst kam ein Teil der Familie nach Erfurt, bis sie in München Freiham zusammengeführt wurden und sich zu acht einen 80 Quadratmeter großen Wohncontainer teilen durften. Die Gemeinschaftsküche und -bad benutzen sie gemeinsam mit anderen Bewohner der Unterkunft. „Wir waren sehr glücklich“, sagt Kamal. „Und haben uns sofort Deutschkurse gesucht.“ anderwerk war ganz in der Nähe und so wurde die Familie auf verschiedene Kurse aufgeteilt. Die Jüngeren waren etwas schneller als die Älteren, auch weil Kamal zwischendurch Vater einer kleinen Tochter wurde. „Wir haben uns sehr schnell um eine Kinderbetreuung gekümmert und jetzt lernt meine Frau auch Deutsch, damit sie so bald wie möglich arbeiten kann.“ Kamal hat mit seiner Familie vereinbart, dass er eine Ausbildung zum Kaufmann für Außenhandelsmanagement machen wird.

Ich spreche sechs Sprachen – Deutsch ist Farsi am Ähnlichsten

„Deutsch ist für mich jetzt schon eine Sprache, in der ich mich präziser ausdrücken kann als in den anderen Sprachen, die ich gelernt habe, wie Englisch, Paschtu, Urdu und Hindi.“ Einige Worte und der Satzbau seien ähnlich wie in seiner Muttersprache Farsi. „Darum macht Deutsch für mich Sinn“. Damit seine Kenntnisse noch besser werden, gehört die „tagesschau“ um 20 Uhr zu seinen täglichen Ritualen. Außerdem schaue er sich Filme auf Deutsch an, deren Handlung er kennt. „So kann ich mich auf die Vokabeln konzentrieren.“ Aber auch die deutsche Serie„Dark“ hat ihm sehr gut gefallen, weil er die Dialoge mochte. Sein Podcast-Tipp: „Slow German“. Außerdem besuchte er regelmäßig die Stadtteilbibliothek und kam dort mit anderen Studenten in Kontakt. Er sei sehr sozial, habe aber den Kontakt zur afghanischen Community gemieden: „Ich würde gerne neue, einheimische Leute kennenlernen“, sagt er.  

Das Einzige, was er vermisse, seien die süßen Früchte aus der Heimat. Hier sei das Obst oft schön verpackt, habe interessante Namen, sei hochpreisig, schmecke aber nicht so gut. „Aus Marketingsicht ist das sehr interessant“, fügt er hinzu.

Deutsche Ordnung – deutscher Verkehr – deutsches Fahrrad

Seine Fragen zu Deutschland konnte er nicht nur im Orientierungskurs an seinen Lehrer richten: Welche Hobbys haben die Deutschen? Wann machen sie Urlaub? Und er stellte zwei große Unterschiede fest: „In Afghanistan vermischen sich Berufliches und Privates stärker.“ Das liege auch an der räumlichen Nähe, erklärt er. Hier in Deutschland sei jeder für sich selbst verantwortlich.

Und der zweite Unterschied: Hier fahren alle Fahrrad. Bevor ihm das bewusst wurde, hat er auf Youtube für den deutschen Führerschein gelernt und auf Anhieb bestanden. „In meiner alten Heimat herrschte Chaos auf den Straßen, ohne Blinker, mit Verkehrspolizisten an jeder Kreuzung, aber es funktioniert.“ So sehr er die deutsche Ordnung schätzt, so sehr liebt er es nun, jeden Tag mit dem Fahrrad zum Kiosk zu fahren. „Das ist so entspannt“, sagt er.

Während des Gesprächs hat er nie Verständnisprobleme. Sein Deutsch ist gut. Nur mit dem Bayerischen hapert es noch: „Am Kiosk muss ich bei echten Bayern nachfragen. Da verstehe ich 70 Prozent nicht. Aber die wiederholen einfach und irgendwann klappt es.“ Der Weg ist das Ziel.