Leben als Flucht / Flucht als Leben

Erfolgsgeschichte Raumaustattung

Salim* ist sehr schnell. Er schneidert schnell. Lernt schnell und möchte auch schnell vorankommen. Muss er auch, denn der Druck ist groß: Wohnungssuche, Probezeit, herzkranke Mutter und der Wunsch, dass endlich alles gut wird. Dass er arbeiten darf, seine Vorgesetzten zufrieden sind und er zur Ruhe kommen kann. Nicht mehr fliehen. Nicht mehr umziehen. Und eine Heimat finden. Darauf freut er sich sehr.

Mit 16 Jahren war Salim aus dem Iran geflohen, wo er mit seinen Eltern lebte. Diese hatten mit ihm als Baby bereits Afghanistan verlassen, wegen des damals dort herrschenden Krieges. Seit seinem siebten Lebensjahr arbeitete Salim in einer Schneiderei, um zum Familieneinkommen beizutragen.

Als Nicht-Perser hatte er im Iran keine Rechte, keinen Zugang zu Ausbildung oder Schule und keinen Anspruch auf gleiches Gehalt wie gebürtige Iraner. In Afghanistan geboren zu sein, wurde ihm nach seiner Flucht auch in Deutschland fast zum Verhängnis. Denn im Falle einer Abschiebung hätte er nach Afghanistan „zurückkehren „müssen, in ein Land, in dem er nie zuvor war und auch keine Verwandten mehr hatte. Das aber sein Herkunftsland ist.

Posttraumatische Belastungsstörung

Nach München war er 2015 während der großen Flüchtlingswelle gelangt. Seine Route hatte ihn über die Türkei, Griechenland, Ungarn, Serbien und Österreich bis zur damaligen Endstation Bayernkaserne geführt. Nach der Flucht zu Fuß über die iranisch-türkischen Berge war er mit dem Lastwagen bis Istanbul gereist, wo er über einen Monat in einer Wohnung verbrachte, bis zum Weitertransport.

Die Schlepper brachten ihn dann an die Küste, wo ein Schlauchboot auf ihn und seine Gruppe wartete. „Es sprangen immer mehr Leute ins Boot, bis wir zu 70. drin saßen. Es war viel zu eng“, erinnert sich Salim. Auf der Flucht litt er ständig unter großem Hunger, unbeschreiblichem Durst und großer Angst. Szenen, wie die Zerstörung des Bootes durch die griechischen Schlepper mit ihren Messern, kaum dass die Flüchtlinge den Boden der griechischen Zielinsel betreten hatten, verfolgen ihn bis heute im Schlaf.

Vom Analphabeten zum Lehrling in drei Jahren

Die Kommunikation mit Freunden und Familie verlief damals über ein mitgebrachtes altes Nokia-Handy. „Wir wussten, dass andere für ein gutes Handy schwer verletzt worden waren. Je älter, desto sicherer, dachten wir uns.“ Außerdem hatte Salim auch keine Sim-Karte. Im Iran durfte er als Nicht-Perser keine kaufen. Ohnehin konnte er ohne die Hilfe seiner Freunde nicht einmal die Nachrichten auf dem Handy lesen, da er ohne Schulbesuch Analphabet war.

In München legte Salim den Turbo ein. Der Jugendliche lernte trotz seiner Schlaf- und Konzentrationsstörung binnen nur zwei Jahren Lesen, Schreiben und Rechnen. „Ich war in der neunten Klasse und habe mir eine Übersetzer-App heruntergeladen, damit ich verstehe, was die anderen sagen. Nach der Schule habe ich mit youtube weitergemacht und dabei auch gelernt, Farsi zu lesen.“

Salim ist jedem bei anderwerk dankbar

„Alle Samstage und Sonntage hatte ich gelernt, weil ich ja ein Ziel hatte.“ Er wollte so schnell wie möglich eine Ausbildung anfangen und abschließen, um die Arbeits- und Aufenthaltsgenehmigung zu erhalten. Während der Schulzeit hatte Christian Bäuerle von anderwerk ihn nach eines Kurzpraktikums weggeschickt mit der Mahnung: „Deine Deutschkenntnisse müssen besser werden.“

Salim ist ihm dafür heute sehr dankbar: „Mein Deutsch war noch nicht gut genug und während der Ausbildung hätte ich keine Zeit dafür gehabt.“ Und anderwerk ist froh, dass er gelernt hat und sich dann für die Ausbildung bei anderwerk entschied. Natalie Stetter, Sozialpädagogin sagt: „Salim ist wissbegierig, bittet um Hilfe und ist stets im Austausch. So weiß ich, wo ich einhaken kann.“ Er vertraut Natalie Stetter seine Sorgen an und startete umgekehrt das Gespräch oft damit, sie zu fragen, wie es ihr und ihrem Kind gehe.

Salim ist jedem bei anderwerk dankbar

Auch Raumausstatter-Meisterin Nicole Maier ist voll des Lobes, wenn es um Salim geht: Immer freundlich, immer zuverlässig, nie krank. Nur ein wenig zu schnell sei er für die Details. Salim erklärt, beruflich sei es im Iran immer um Geschwindigkeit gegangen. „Erst wenn ich mit meiner Arbeit an einer Jogginghose, einem Shirt oder einem Hochzeitsanzug fertig war, konnte mein Kollege weitermachen.“ Bei anderwerk geht es nun um Genauigkeit. „Ich habe leider oft Schlafstörungen und liege die ganze Nacht wach, dann fällt es mir schwer konzentriert an Details zu arbeiten. Doch auch das hat Salim bewältigt.

anderwerk war ihm eine große Hilfe, weil er zwar gut deutsch, aber die Fachbegriffe nicht konnte. Außerdem deckt anderwerk ein großes Spektrum mit viel mehr Zeit und Ausführlichkeit ab, was in einem Regelbetrieb kaum möglich ist.

Weil er es will

Seine Idee in Deutschland als Altenpfleger zu arbeiten, scheiterte übrigens daran, dass kein Ausbildungsplatz mehr frei war. So blieb er nun doch bei dem, was ihm schon als Kind gelang: Schneidern. In diesem Fall in seinem Lehrberuf der Raumausstattung.

Warum es Salim in so kurzer Zeit so weit gebracht hat? Das anderwerk Team Anke Weiberg, Natalie Stetter und Nicole Maier sind sich einig: „Er macht was draus. Hält sich an die Regeln und will hier Fuß fassen.“

Salim hat eine Heimat gesucht und möchte sie hier finden.

*Name von der Redaktion geändert