Erfolgsgeschichte: Alleine hätte er das nicht geschafft
Erfolgsgeschichte aus dem Bereich „ambulante Erziehungshilfen“ (AEH)
Ingo kann nicht erkennen, wenn jemand mit ihm Kontakt aufnehmen will. „Mach doch mal den Mund auf“ hätte er bis vor ein paar Monaten wörtlich interpretiert. Zwar wusste er schon früh: Ich bin anders als die anderen. Sah sich als Außenseiter. Schlitterte darum in eine Depression. Doch erst als die Lehrer Alarm schlugen, weil er im Unterricht einer Statue glich, wurde er getestet und erhielt im Alter von 16 Jahren die Diagnose Asperger-Syndrom. Ohne die intensive Begleitung durch anderwerk hätte Ingo seinen Weg bis hierher nicht bewältigt – er ist heute Student, hat Freunde und versteht Ironie!
Seine Mutter hatte Hilfe gesucht bei den AEH
Felix Fertl, Sozialpädagoge bei den ambulanten Erziehungshilfen (AEH) von anderwerk erinnert sich: „Als wir zur ersten Kontaktaufnahme in Ingos Elternhaus kamen, traf mein Kollege Thomas Faßbender auf einen sehr blassen, zarten, schon fast unterernährten und doch sehr gut aussehenden jungen Kerl, mit langen, gepflegten Haaren.“ Seine Mutter hatte nach Hilfe gesucht, denn trotz seiner hageren, matten Erscheinung, war Ingo vor allem gegenüber seiner Mutter zu starken verbalen Gefühlsausbrüchen fähig. Hinzu kam: Was ihm anderen gegenüber an Einfühlungsvermögen fehlte, mangelte ihm auch sich selbst gegenüber an Körperwahrnehmung. „Ingo hatte kaum Schmerzempfinden und vor allem kein Hungergefühl.“ Hätte seine Mutter nicht auf ein Minimum an Nahrungsaufnahme gedrungen, ihn immer wieder erinnert zu essen, hätte seine Gesundheit gelitten“, so Felix Fertl.
Gemeinsam mit ihm legten wir Ziele fest
Ingo verspürte zu der Zeit keine Freunde, keinen Antrieb und hatte keine Kraft, kein Maß für Gefahr und Ausdruck. Wenn er schlecht gelaunt war, sagte er „Ich will sterben“, hatte dabei aber keinerlei Suizid-Pläne. Wenn er wütend war, drohte er „ich will Dir den Kopf abschneiden“, hätte aber nie zu Messer gegriffen. Dadurch war er seinem Umfeld suspekt, vereinsamte immer mehr und zog sich nach der Schule zu Offline-Computerspielen zurück. Seine Lehrer wussten nicht, wie sie an ihn herankommen sollten. Und auch seine Mutter geriet sehr deutlich an ihre Grenzen.
Felix Fertl erklärt das Vorgehen von anderwerk: „Wir vereinbarten zunächst erreichbare Ziele und bauten ein Netzwerk auf. Ingo startete eine Verhaltenstherapie und kam nach einer Weile fast jeden Nachmittag zu uns, zu AEH in der Gneisenaustraße.“ Bis zur siebten Klasse hatte er laut Fertl mit Glück und Strategie geschafft, die Noten auf dem Gymnasium zu halten. Als dann mit dem Alter die Anforderungen an Referate, Unterrichtsbeteiligung und auch privat die Aufgaben im Haushalt altersgemäß zunahmen, eskalierte die Situation. Felix Fertl erklärt: „Die sogenannten Hausaufgaben, also soziale Verhaltensaufgaben, die Ingo bei seiner Therapie erhielt, bearbeiteten wir dann nachmittags. Wir gingen die ersten Schritte ins gesellschaftliche Leben mit Ingo gemeinsam.“ Zusammen mit dem Jugendlichen legten sie die Ziele fest und die Zeiten wie und wann er etwas schaffen und erreichen wolle.
anderwerk steigerte langsam die Anforderungen
Zunächst ging es vor allem um mehr Souveränität im Alltag: „Alles, was in der Gruppe stattfand, war für ihn eine Herausforderung, also starteten wir mit einer U-Bahnfahrt ins Einkaufszentrum“, so Fertl. Und er erklärt weiter: „Wir arbeiteten uns langsam vorwärts vom Zuhause, zum nahen Umfeld, zu anderwerk und zur Umgebung von anderwerk. Von Einzeltreffen mit Spaziergängen zum Gruppenangebot bei anderwerk, zu kulturellen Ausflügen mit vielen Menschen wie Kino oder sogar Bowling. Also auch hier vom passiven zum interaktiven.
Die Bestätigung sei bei jedem Schritt sehr wichtig für Ingo gewesen. „Du hast es geschafft“, sagte Fertl zu ihm, als Ingo eines Tages einfach am gemeinsamen Kochen bei den AEH teilnahm. Er hatte die Nähe zu den sieben anderen im Raum ausgehalten. „Möchtest Du an der Übung teilnehmen“, bot Felix Fertl ihm an, damit er an der Teamarbeit „Turmbau aus Karton“ mitmachte. Und bestärkte ihn mit „Du kannst das“ als er die körperliche wie soziale Anstrengung annahm, einen Raum zu gestalten, also gemeinsam zu streichen und einzurichten. „Ingo war immer wieder von sich selbst überrascht, sei es, wenn er sich am Gespräch beteiligte oder wenn er Ideen aktiv einbrachte. Auch hier steigerten wir natürlich langsam die Anforderungen von Dabeisitzen, zu Teilnehmen, von Zuhören zu Argumente liefern und Vortragen. So verbesserte er sich auch nach und nach in der Schule.
Pflichten werden zu Druck, Druck zur Bedrohung, Bedrohung führt zur Aggression
Was ihm lange Probleme bereitet hatte, waren spontane Planänderungen oder für ihn ausweglose Situationen. Auf alles, was seine Struktur störte, reagierte er mit Aggression. Das konnten aber auch Verhaltensänderungen seines Umfelds verbessern: „Ingos Mutter war in gewissen Situationen hilflos“, erinnert sich Felix Fertl. „Wenn er sein Zimmer trotz Absprache nicht aufräumte und seine Mutter ihn ermahnte, fühlte sich Ingo in seinem Ablauf gestört und bedroht und so war sein erster Impuls sie anzuschreien. Wir haben mit der Mutter gesprochen und gemeinsam Situationen geübt.“ Heute erinnert Ingos Mutter ihn an die Absprache und gibt ihm Zeit, was unglaublich wichtig für ihn sei, wie Felix Fertl betont. „Nur kein Druck“.
Ingo hatte sein Problem erkannt und wollte „es weg haben“. Damit einher ging auch eine körperliche Veränderung, denn das neue Leben forderte Kraft und Ausdauer. Also startete er zusammen mit Thomas Faßbender im Kraftraum einige Übungseinheiten, probierte sich dann erst unterstützt von ihm und schließlich allein und unbeobachtet an der Kletterwand aus. Und schließlich schlug der anderwerk-Sozialpädagoge Schwimmen vor und das wurde schließlich Ingos Sport, den er allein und regelmäßig ausübt. „Der Weg zur Veränderung erfolgt bei Ingo störungsbedingt durch Analyse und Logik. Nachdem wir mit ihm den Stoffwechsel und Energiebedarf des Körpers besprochen hatten, machte er sich einen Plan und trainiert und isst seitdem schematisch.“ Bei seinem letzten Besuch bei den AEH kam ein aufrechter, gesunder junger Mann auf die Sozialpädagogen zu, der zwar noch nicht vor Kraft strotzt, aber auf dem richtigen Weg ist.
Was anderwerk geschafft hat, war in der Therapie alleine nicht möglich
Sein Abi hat er mit der Note 2,6 geschafft und studiert nun an der Uni. Bereits in der K13 hatte er erste Freundschaften geschlossen und heute hat er Kommilitonen, die er regelmäßig trifft.
Auch bei der Auswahl des Studienfachs hatten Faßbender und Fertl geholfen, denn Ingo verzettelte sich im Für und Wider. „Dass er um Hilfe gebeten hatte, statt zu verstocken, war ein großer Fortschritt“, so Fertl. Und er scheint richtig gelandet, denn Ingo studiert bereits seit einem Semester erfolgreich Soziologie und erforscht damit das, was ihm unbekannt ist beziehungsweise, das, was ihm widerstrebte: Gesellschaft, Gruppendynamik, Schwarmintelligenz. „Was anderwerk geschafft hat, war in der Therapie alleine nicht möglich“, sagt Felix Fertl. Die Therapie finde in einem geschützten Raum statt. Für Ingo sei die Begleitung, das an der Hand nehmen, sehr wichtig gewesen. „Ingo hatte das Wissen, er konnte es aber nicht auf sein Alltags-Verhalten übertragen. Alleine hätte Ingo es nicht geschafft, dank anderwerk schon.“ Jetzt geht er seinen Weg alleine. Er darf sich aber natürlich jederzeit melden. Die Türen bei anderwerk stehen offen.
*Name von der Redaktion geändert