Wir bremsen und motivieren

Erfolgsgeschichte Hilfe zur Arbeit

Jahre in Schwermut: Der Weg vom Schreibtisch zur Wohnungstür fühlte sich wie eine Wanderung an. Die damals einzige Abwechslung bestand aus dem wöchentlichen Besuch der Münchener Tafel. Nichts ging mehr. Dann holte sie sich professionelle Hilfe.

Heute arbeitet Sabrina Koch* dank anderwerk 30 Stunden pro Woche und wird höchstwahrscheinlich im nächsten Jahr in eine Festanstellung wechseln. Von zwei Euro die Stunde wird sie sich steigern zu einem normalen Monatslohn. Und der Weg zur Münchener Tafel wird der Vergangenheit angehören.

Aufgewachsen ist Sabrina* in einer ländlichen Region. Ihre Schullaufbahn kann sie getrost eine Karriere nennen, denn zweimal wurde ihr angeboten, eine Klasse zu überspringen. Das Abitur schloss sie mit einer 1 ab und die naturwissenschaftliche Begabung in Mathe und Bio sollte zu einem Doppelstudium führen. Großer Plan: Informatik und Games Engineering.

Doch trotz oder eventuell aufgrund ihrer Begabung und ihres Talents, Details zu erkennen und alles präzise zu erledigen, konnte die Studentin Sabrina Koch dem Druck nicht Stand halten. Denn widrige private Umstände hatten über die Jahre Kraft gezogen.

Ihre Mutter war erkrankt, als sie vier Jahre alt war. Der Vater konnte beruflich keine Pause einlegen, war als Alleinernährer selten anwesend und konnte auch emotional keine starke Schulter anbieten. Sabrina übernahm von Jahr zu Jahr mehr Verantwortung und Haushaltsaufgaben der Mutter. Mit sechs Jahren konnte sie die stabile Seitenlage, für den Fall, dass ihre Mutter aufgrund ihrer Erkrankung plötzlich bewusstlos würde. Nach einer Not-OP der Mutter übte Sabrina monatelang mit ihr, damit die Mutter das Sprechen wieder erlernte. Von ihrer Großmutter wurde sie ständig ermahnt, auf ihre Mutter Acht zu geben und sich um sie zu kümmern. Sie habe zudem die sozialen Bedürfnisse der Mutter nach Gesellschaft oder Unterhaltung befriedigt. Heute sagt sie: „Ich lebte bis weit über mein 18. Lebensjahr hinaus fremdbestimmt.“

Weiterbildung und Ehrgeiz mündeten stets in Überforderung

Kaum hatte Sabrina das Abitur bestanden, erkrankte die Mutter erneut schwer und verbrachte lange Zeit im Krankenhaus. Neben der erneuten Pflege der Mutter arbeitete Sabrina in dieser Zeit im großelterlichen Gärtnereibetrieb und hatte verschiedenen Nebenjobs, um Geld fürs Studium zu verdienen. Das darauf folgende Studium, in das sie so große Hoffnungen, gesteckt hatte, wurde jedoch zum Martyrium. Die ersten Jahre jobbte sie noch in der Gastronomie. Doch das ging bald nicht mehr: Als die Urgroßeltern zu Pflegefällen wurden, sah es ihre Familie als selbstverständlich an, dass Sabrina an den Wochenenden bei der Pflege half. Wollte sie dennoch einmal absagen, weil sie für Prüfungen lernen musste oder ihr einfach alles zu viel war, wurden ihr Vorhaltungen gemacht: „Du wirst es noch bereuen. Man weiß nie, wie lange deine Uroma und –opa noch leben. Dann ist es zu spät. Lernen kannst du auch im Zug.“ Sechs Jahre brauchte sie unter diesen Umständen bis zum Bachelorabschluss. Während dieser Zeit war sie im wahrsten Sinne des Wortes zusammengebrochen. Sechs Jahre brauchte sie bis zum Bachelor.

Während dieser Zeit war sie im wahrsten Sinne des Wortes zusammengebrochen. Den chaotischen Zuständen in ihrer Wohnung konnte sie nur mithilfe von außen begegnen. Auch psychisch suchte sie sich professionelle Hilfe. Finanziell war es zudem so eng geworden, dass sie sich seitdem nur dank der Spenden der Münchener Tafel ernähren konnte. Dieser Gesamtzustand hielt trotz Therapie mehr als zehn Jahre an. Jahre, in denen sie zwischen Weiterbildung und Überforderung hin und herpendelte.

Hier erfährt sie Lob und Anerkennung

Erst mit 34 Jahren fand sie in der Verwaltung der Jugendhilfe im Strafverfahren einen Job, der nun ihrem Leben Struktur gibt. Vermittelt wurde ihr diese Stelle dank „Hilfe zur Arbeit“ von anderwerk. Petra Sahner, betreuende Sozialpädagogin sagt: „Schon bei der ersten Begegnung mit Sabrina Koch war ich beeindruckt und erstaunt zugleich. Selten begegnete ich jemandem mit einem derart großen Bildungshintergrund beim Jobcenter.“ Doch gleichzeitig sei ihr aufgefallen, wie sehr sich die junge Frau unter Druck setze und jede Aufgabe verbissen wahrnehme. Petra Sahner ergänzt: „Sie ist nicht nur aufgrund ihrer Bildung keine typische Maßnahmeteilnehmerin. Ihre Offenheit und Bereitschaft zur Reflexion sind beeindruckend.“

Doch natürlich sei es ein Prozess. Die Arbeit, ihr Lebenspartner und ihre zwei Katzen geben ihr Halt. Dennoch habe sie privat nach wie vor Probleme, nicht in den Messi-Zustand zurückzufallen. Und auch beruflich steigere sie ihre Stunden maßvoll, aber sei noch nicht bei 100 Prozent angekommen. Von 15 über 20 bis inzwischen 30 Stunden plus Mini-Job habe sich Sabrina Koch gesteigert und bereite sich somit auf die Realität vor.

„Hier darf sie Fehler machen“, erklärt Petra Sahner. Das war zu Hause wohl nie möglich. Die Strafen der Mutter waren emotional hart gewesen: „Wann immer etwas nicht exakt den Vorstellungen entsprach, wurde sie kritisiert, vollständig ignoriert oder durch passive Aggressivität zum gewünschten Verhalten gezwungen“, so Sahner. Hier erfahre sie Lob und Anerkennung. Das habe sie in der Familie nie erhalten. „Außerdem ist hier bekannt, dass Sabrina Koch Probleme hat(te) und sie lernt jetzt, ihre Überforderung rechtzeitig zu erkennen und auszusprechen“, fährt Petra Sahner fort.

Sie wird sehr sicher im ersten Arbeitsmarkt ankommen

Als großes Vorbild sieht Sabrina Koch ihre Vorgesetzte, die sagt: „Sie ist eine sehr ambitionierte und qualifizierte Kraft, die selbstbewusst ihr Berufsleben gestalten möchte.“ Die Gefahr sei jedoch ihre Gewissenhaftigkeit“, so sind sie und Petra Sahner sich einig. „Was wiederum ein Ausdruck dessen ist, dass sie aus Unsicherheit oder Angst alles unter Kontrolle halten möchte“, so Sahner weiter. An Fleiß hat es nie gemangelt. Wenn Sabrina Koch es schaffe, ihren Perfektionismus einzugrenzen, dann stünden die Chancen auf eine Wiedereingliederung in den ersten Arbeitsmarkt mehr als gut.

Bisher habe sie gelernt, ihre Kollegen nach Feedback zu fragen, Erfahrungen in der Gruppe zu sammeln und sich zu integrieren. Meilensteine waren auch die (wieder) entdeckte Freude an der PC-Arbeit und, dass eine solche Tätigkeit durchaus zu ihr und ihren Fähigkeiten passt. Ihre Vorgesetzte sagte im Feedbackgespräch: „Ich bin sehr zuversichtlich, dass sie es schafft. Und jeder, der sie kennt und als Mitarbeiterin hat, kann froh sein.“ Im nächsten Jahr soll’s losgehen. Vorher will sie noch mindestens ein Praktikum machen und sich perfekt vorbereiten – eine Aufgabe von anderwerk besteht weiter darin, zu bremsen und zu motivieren gleichzeitig.

*Name von der Redaktion geändert