Auf Umwegen in die Gemeinschaft

Erfolgsgeschichte Schreinerei

Ende 2016 kam Pauline* mit ihren Eltern von Bulgarien nach Deutschland. Damals war sie 11 und stotterte bereits, solange ihre Erinnerung zurückreicht. Einsamkeit, Depression, Ritzen, Suizidgedanken begleiteten sie von nun an. Heute ist sie 17 Jahre alt. Das Stottern hat sie nie überwunden. Doch sie hat bei anderwerk eine Ausbildungsstätte gefunden, die ihren Bedürfnissen entsprechend Lösungen anbietet. Sie ist in der Klassengemeinschaft aufgenommen. Hat dort einen Vortrag vor allen gehalten. Und sie trat bei einem Poetry-Slam auf, vor mehr als 150 Leuten. Stotternd, aber selbstbewusst. Pauline hat ihren Weg gefunden. Aber es wird weiter Umwege geben.

Das massive Mobbing startete damals in der Hauptschule und der Übergangsklasse in Deutschland. „Seit der Kindergartenzeit bin ich zu Logopäden gegangen“, erzählt Pauline. „Zwar finde ich deren Methoden sehr interessant, aber geholfen hat mir nichts.“ Denn ihre Andersartigkeit führte dazu, dass sie in der Schule permanenter verbaler Gewalt ausgesetzt war. „Die Mitschüler nannten mich ‚Stotternde Missgeburt‘ und ich sperrte mich auf der Toilette ein, um die Pausen zu überstehen. Ich hatte nie Freunde und war sehr einsam.“

Ihre beste und einzige Freundin bis heute fand sie im Internet. „Sie lebt auch in München. Aber wir schreiben uns nur, so weiß sie nicht, dass ich stottere. Und wird es nie erfahren.“

Ich fühle mich in meiner Freiheit massiv eingeschränkt

Ihre Eltern seien laut Pauline sehr konservativ, was wiederum zu inneren Konflikten bei der Tochter führt: „Ich weiß, dass meine Mutter homophob und transfeindlich ist, ich dagegen bin transgender. Während ich politisch offen bin, ist mein Vater unter anderem Putin-Anhänger. Und tendenziell glauben beide eher an Verschwörungsmythen. Wenn ich mich leger und praktisch kleide, kritisiert meine Mutter meinen Stil. Und sollte ich ausgehen, müsste ich jeden Abend um 20 Uhr zu Hause sein.“

Katharina Meram, Sozialpädagogin bei anderwerk berichtet: „Meiner Meinung nach wird Pauline von ihren Eltern sehr geliebt.“ Beide arbeiteten sehr viel und haben eine hohe Erwartung an Pauline, können aber ihr Denken intellektuell nicht verstehen. Sie wiederum „leidet darunter, dass die Kommunikation mit der Mutter nicht flutscht.“ Paulines Mutter höre nicht zu, beschwere sie sich dann aber, dass Pauline nichts erzählt. Ihr großes Ziel sei es nun, auszuziehen, sobald sie 18 werde. „Ich fühle mich in meiner Freiheit aktuell massiv eingeschränkt“, sagt die Siebzehneinhalb-jährige.

 

Ich bin anderwerk sehr dankbar

In Deutschland hatte sie ihre Sozialarbeiterin in der Schule um Unterstützung gebeten. „So bin ich zu anderwerk gekommen.“ Sie meldete sich bei der Berufsschule an und überstand das erste Lehrjahr in der anderwerk Schreinerei erfolgreich. Pauline selbst ist soweit zufrieden und sagt: „Hier bei anderwerk haben alle Jugendlichen etwas erlebt, was sie anders sein lässt. Tragen ein unverarbeitetes Päckchen mit sich. Hier habe ich angefangen, mich selbst zu akzeptieren und kann auch auf andere zugehen.“

Ihr Schlüsselerlebnis sei die Erlebnispädagogische Fahrt bei anderwerk gewesen: „Ich erinnere mich so gut an den Moment als wir ein Feuer gemacht hatten, zusammen saßen und quatschten. Ich fühlte mich zum ersten Mal zugehörig zu einer Gruppe.“ Schreinermeister Klaus Haas und Katharina Meram sorgten dafür, dass sich alle in der Gruppe wohlfühlen. „Ohne die beiden hätte meine Veränderung nicht stattgefunden“, sagt Pauline dankbar.

Die Entwicklung muss weitergehen

Leider hole sie die Vergangenheit immer wieder ein. „Ich arbeite gerne mit Menschen und kann jetzt auch auf sie zugehen“, berichtet Pauline. Bei Kundenterminen bin ich gut geworden. „Leider komme ich aber jetzt oft bis zu drei Stunden zu spät zur Schreinerei.“ Klaus Haas und Katharina Meram organisierten in Folge ein Gruppengespräch. Es stellte sich heraus, dass Pauline plötzlich die Angst hatte aus der Gruppe ausgeschlossen zu sein. Ihre Azubi-Kolleg*innen widersprachen.

Zusätzlich half eine praktische Option von Katharina Meram: „Bei anderwerk wollen wir Alternativen anbieten. Pauline soll nun pünktlich erscheinen und dann alleine um den Block spazieren und sich sammeln. So findet sie in wortwörtlich kleinen Schritten zu ihrer inneren Stabilität zurück.“

Weiter erklärt Katharina Meram, dass Pauline auf ihr Umfeld zunächst verschlossen wirke. Sie sei sich ihrer manchmal schroffen Art nicht bewusst. Wenn sie nicht grüße, sei das Unsicherheit. Aber auch das müsse sich ändern und sei auch hinsichtlich beruflicher Perspektiven nicht akzeptabel.

Auf Umwegen ans Ziel: in die Gruppe

Aufschlussreich sei eine Geschichte von Pauline gewesen, die sie der 13-köpfigen Azubi-Gruppe erzählt habe, über Wind und Wasser. Gemeinsam überschreiten sie Grenzen und Hürden, indem das Wasser mithilfe des Windes aus dem Fluss verdampfe, fortgetragen werde und im Meer abregne. So überwinde Pauline aktuell wieder eine neue Hürde. Und komme wieder pünktlich. Die Lehre wird sie in einem Jahr abschließen. Und sie wird mit Menschen arbeiten, trotz ihres Stotterns. In einem Team. Nicht allein.   *Name von der Redaktion geändert